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Dimension - Perspektive Geflüchteter

Ziel ist es, die Integrationserfahrungen, die Geflüchtete in ländlichen Wohnorten gemacht haben, zu erfassen und zu verstehen. Dies ermöglicht Rückschlüsse auf strukturelle und individuelle Faktoren, die eine Bleibeorientierung begünstigen.

Hierbei werden die strukturellen Spezifika ländlicher Wohnungsmärkte (z. B. hohe Eigentumsquote, Leerstände), die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vor Ort, die Chancen, in den lokalen bzw. regionalen Arbeitsmarkt integriert zu werden, aus der Perspektive von Geflüchteten betrachtet. Darüber hinaus wird analysiert, inwieweit soziales Eingebundensein in lokale Gemeinschaften (Nachbarschaften, Vereine) einerseits und kleine ethnische Gemeinschaften andererseits wichtige Faktoren für das Bleiben sind.

Bisher wurden im Teilprojekt „Perspektiven Geflüchteter“ die empirischen Erhebungen mit Geflüchteten vorbereitet. Diese werden aktuell in den acht Untersuchungslandkreisen durchgeführt. Die Befragung anerkannter Flüchtlinge besteht aus drei Teilen:

  • einer retrospektiven Betrachtung der Wohnbiographie seit der Ankunft in Deutschland,
  • einer Reflexion über den Lebensalltag im ländlichen Wohnort
  • sowie einem Blick auf Ziele und Wünsche in der Zukunft.

Zur Vorbereitung wurde der methodische Forschungsstand zu qualitativen Interviews mit Geflüchteten aufgearbeitet. Dabei lag der Schwerpunkt insbesondere auf der partizipativen Ausrichtung der Gespräche sowie der Unterstützung mittels grafischer Elemente. Die theoretisch-konzeptionelle Herleitung und Hinweise zur praktischen Durchführung des „Mobility Mapping“-Tools wurden im Thünen Working Paper 106 sowie in der internationalen Fachzeitschrift Journal of Refugee Studies veröffentlicht.

Danach wurden Interviewleitfäden in Zusammenarbeit mit Co-Forscher*innen mit Fluchthintergrund und einem internationalen wissenschaftlichen Expertenteam (Prof. Dr. Pablo Bose, Geograph, University of Vermont; Dr. David Radford, Soziologe, University of South Australia; Dr. Birgitte Romme Larsen, Anthropologin, University of Copenhagen; Dr. Martin Ledstrup, Nahostforscher, University of Southern Denmark) erarbeitet und Pretests durchgeführt. Im September 2018 wurden die Projektbearbeiter*innen mithilfe von Rollenspielen für die Interviews mit Geflüchteten in einem Knowledge-Transfer-Workshops in Erlangen geschult.

Für die Auswahl der Interviewpersonen wurde ein möglichst breiter Feldzugang gewählt. Neben Ehren- und Hauptamtlichen wurden Verfahren der Kaltakquise, also eine Ansprache an bekannten Treffpunkten von Geflüchteten in den Untersuchungskommunen angewendet. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden dann bestehende Kontakte zu Geflüchteten genutzt, um weitere Interviewpersonen zu akquirieren. Dadurch konnte erreicht werden, dass die Samples in den Untersuchungslandkreisen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Familienkonstellation, aktueller Tätigkeit und Herkunftskontext die jeweiligen lokalspezifischen Konstellationen berücksichtigen.

Während der Erhebungsphase fand ein regelmäßiger, intensiver Austausch der beteiligten Projektpartner statt. Feldbesuche und die Reflexion der ersten Gespräche mit Geflüchteten anhand der Audioaufnahmen unterstreichen den intensiven Austausch, wodurch zeitnah auf forschungspraktische und methodische Herausforderungen reagiert werden konnte. Aktuell werden die Gespräche für die Auswertung aufbereitet, d. h. transkribiert und ein Codeplan erstellt.

 

Das Knüpfen von neuen sozialen Kontakten stellt Geflüchtete in ländlichen Räumen vor besondere Herausforderungen. Dabei spielen anfangs häufig auch fehlende Mobilitätsoptionen eine große Rolle, da Orte des sozialen Zusammenlebens nur schwer erreicht werden können.

Mit diesem Thema setzt sich ein Podcast auseinander, der in einem Seminar mit Masterstudierenden der FAU Erlangen-Nürnberg unter der Leitung von Stefan Kordel und Tobias Weidinger erstellt wurde. In der Forschungswerkstatt „Wissenschaftskommunikation im Migrationskontext“ übersetzten die Studierenden die Forschungsergebnisse zu diesen Themen in einen nachgestellten Dialog. Anschließend geben die Forscher einen Einblick in weitergehende Forschungsergebnisse, zum Beispiel zu den Spezifika geflüchteter Frauen.

Um den Podcast möglichst vielen Menschen und insbesondere der Community der Geflüchteten zugänglich zu machen, wurden neben der deutschsprachigen Version auch Übersetzungen in Arabisch und Dari produziert. 

Deutsch:
https://anchor.fm/gefluechtete-lr/episodes/Geflchtete-in-lndlichen-Rumen---Deutsch-e16rvcu

Arabisch:
https://anchor.fm/gefluechtete-lr/episodes/Geflchtete-in-lndlichen-Rumen---Arabisch-e1719v2

Dari:
https://anchor.fm/gefluechtete-lr/episodes/Geflchtete-in-lndlichen-Rumen---Dari-e171a11

MIGRANTISCHE ÖKONOMIEN in ländlichen Räumen: Geflüchtete als „Entrepreneurs“

Die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs in Wohnortnähe wird in ländlichen Räumen oftmals als Herausforderung betrachtet. Während sich Discounter in Kleinstädten oder an Pendlerstrecken niederlassen, sind kleinere, inhabergeführte Geschäfte oft nur noch selten zu finden. Zudem ist das Kund*innenpotenzial durch Wegzüge reduziert und häufig müssen Lebensmittelläden, Bäcker oder Metzger schließen. In der Folge entstehen oft Leerstände in Ortszentren.

Günstige Mietpreise für diese Gewerbeimmobilien sowie eine erhöhte Nachfrage nach bestimmten Produkten durch Neuzugewanderte führten dazu, dass Lebensmittelläden entstanden. Diese bieten internationale Produkte aus dem arabischen oder afrikanischen Raum an und werden von Personen geführt, die selbst zugewandert sind. Sie werden deshalb als migrantische Ökonomien bezeichnet.

In einer Fallstudie in den zwei bayerischen Untersuchungslandkreisen wurde die Entstehung von Lebensmittelgeschäften, die von Migrant*innen geführt werden, untersucht und deren Funktion sowohl für die migrantische Community als auch darüber hinaus thematisiert. Ende 2019 wurden dazu Inhaber*innen sowie die Kund*innen von Geschäften befragt, die 2015 neu gegründet wurden.

Die Unternehmensgründung aus der Sicht von Geflüchteten

Selbständigkeit wird von vielen Geflüchteten als Möglichkeit gesehen, unabhängig und selbstbestimmt arbeiten und leben zu können. Vor allem die Unabhängigkeit von staatlichen Unterstützungsleistungen erfüllte die Selbstständigen mit Stolz:

„Ich bin stolz darauf, dass ich diesen Laden aufgemacht habe und dass ich auch dieses Level erreicht habe, dass ich auch so gespart habe. Ich habe natürlich den Laden mit meiner harten Arbeit aufgemacht und ich habe auch 150.000 für die Stadt erspart, da sie nicht für mich bezahlen müssen.“ (Zaid aus Syrien, zwischen 50 und 60 Jahre alt, im Dezember 2019)

Geflüchtete knüpfen mit der Gründung eigener Läden an Berufserfahrungen und damit an ihr bisheriges Leben im Herkunftsland an. Sie berichteten zum Beispiel bereits in Syrien als Ladenbesitzer*innen gearbeitet zu haben und ihnen dieser Hintergrund nun helfe. Gleichzeitig sind migrantische Selbstständige eigenständige Arbeitgeber*innen. Sie ermöglichen in Form sogenannter ‚co-ethnischer‘ Beschäftigung auch anderen Geflüchteten einen Zugang zum lokalen Arbeitsmarkt. Oftmals werden die Besitzer*innen von mitarbeitenden Familienangehörigen im Geschäft unterstützt.

Eine Unternehmensgründung ist besonders für geflüchtete Migrant*innen jedoch oftmals schwierig. Insbesondere Institutionen, die für die Integration in den Arbeitsmarkt zuständig sind, sehen für Geflüchtete einen bestimmten idealen Weg, z. B. die Aufnahme einer Ausbildung oder Weiterqualifikation, vor. Deshalb wird oft keine finanzielle Unterstützung für eine Selbständigkeit angeboten. Die befragten Geflüchteten mussten in solchen Fällen das benötigte Geld entweder von Verwandten und Bekannten oder durch eigene Erwerbsarbeit organisieren, um ihr Vorhaben der Geschäftsgründung zu realisieren:

„Also mit diesen Schwierigkeiten habe ich mich auf Freunde verlassen, also die waren richtig zuverlässig. Ich habe nach 1.000 Euro gefragt und dann haben sie 1.000 Euro gegeben und auch durch meine Arbeit bei einer Reinigungsfirma.“ (Zaid aus Syrien, zwischen 50 und 60 Jahre alt, im Dezember 2019)

Die Befragung der Kund*innen ergab, dass die meisten aus Syrien (54), gefolgt vom Irak (12) und Afghanistan (6) stammen, während Kund*innen aus Deutschland eher selten dort einkaufen. Die meisten Befragten leben seit dem Jahr 2015 in Deutschland (37), 29 kamen sogar 2016 oder später an und nur 19 sind 2014 oder früher zugezogen. Die befragten Kund*innen sind jung, 60 % sind unter 40 Jahre alt, während über 50-Jährige nur selten dort einkaufen.

Die Lebensmittelgeschäfte bieten nicht nur für Migrant*innen, sondern auch für die eingesessene Bevölkerung neue Waren und Dienstleistungen an, wobei sie sich eine Marktnische zunutze machen. Gleichzeitig erhoben die interviewten migrantischen Unternehmer*innen jedoch den Anspruch, nicht in einer solchen Marktnische zu verbleiben. Vielmehr entwickelten sie die Produktpalette mit Blick auf die Wünsche der Kund*innen kontinuierlich weiter. Hierunter fallen z. B.  Non-Food oder Serviceleistungen wie Geldtransfer oder den Verkauf von Bustickets.

Geflüchtete als Kund*innen können durch diese Infrastruktur zumindest an einem Teil ihrer Lebensgewohnheiten aus dem Herkunftsland festhalten und müssen etwa für Einkäufe bestimmter Produkte nicht in weiter entfernte Großstädte reisen.

Diejenigen Kund*innen, die dort wohnen, wo sich der Laden befindet, erreichen diesen zum Großteil zu Fuß (39 von 54). Falls der Wohnort der Befragten nicht der Standort des Geschäftes ist, ist der Privat-PKW (eigenes Auto oder Mitfahrgelegenheit) das bevorzugte Verkehrsmittel (26 von 41).

Bei Einkäufen überwiegen kleine Ausgaben (bis 10 ), da vor allem Personen, die in der Nähe wohnen, die Geschäfte sehr regelmäßig aufsuchen und Single-Haushalte überwiegen. Große Ausgaben (über 30 ) werden von Kund*innen getätigt, die eine weite Anreise haben. Bevorzugt gekaufte Produkte sind arabisches Brot, Reis/Bohnen, Süßigkeiten sowie Fleisch. Neben der Funktion der Versorgung mit Lebensmitteln sind die Läden auch soziale Treffpunkte und dienen dem Informationsaustausch, z. B. über verfügbare Wohnungen.

Flyer "Neue Lebensmittelgeschäfte auf dem Land" (Neustadt an der Aisch)
PDF Download (nicht barrierefrei; 3,2 MB)

Flyer "Neue Lebensmittelgeschäfte auf dem Land" (Regen)
PDF Download (nicht barrierefrei; 3,1 MB)

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